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Bulgarien – Land im medialen Windschatten

Hans Högl. Sachlicher Reisebericht und Reflexionen

Nur wenige Länder in Europa bleiben medial so unbeachtet wie Bulgarien. Dies trifft auf Deutschland zu und auch auf Österreich – obgleich es ein Tor zum Osten ist, erfahren wir selten etwas über Rumänien und fast nie wirklich Substantielles mit Recherche über Bulgarien. Meine Reise mag dienen, diese Medienlücke ein wenig zu schließen.

2007 tritt Bulgarien der EU bei. Autobahnen und Schnellstraßen sind von der EU kofinanziert. Sie sind besser, als die Bulgaren selbst meinen. Gehsteige sind potenziell fußbrecherisch, Stromleitungen verwickelt und manchmal bis auf Kopfhöhe herunterhängend – so in der anmutigen Kleinstadt Balchik am Schwarzen Meer. Sofia, die Hauptstadt, putzt sich perfekt westlich heraus.

Sichtbar ist der Wunsch von Bulgaren und Bulgarinnen nach mehr Konsumgütern, so hat der Besitz von deutschen Spitzenautos hohes Prestige. Es sind ihrer gar nicht so wenige. Immerhin – es erstaunt- die Hälfte der Haushalte hat ein Auto, meist gebrauchte, berichtet ein osteuropäischer Report. Es gibt gute Hotels und Restaurants. Orts- und Straßenamen sind in kyrillischer und oft in lateinischer Schrift. Junge Bulgaren sprechen Englisch, manche Deutsch. An der Schwarzmeerküste leben insgesamt und dauerhaft 60.000 -vor allem englische Rentner, auch deutsche. Und Skandinaviern schmeckt preisgünstiger Alkohol. 

Während in Westeuropa das Jahreseinkommen Ende der 1990er Jahre noch 4-mal höher war als in Bulgarien, war es 2010 nur zweieinhalb mal so hoch. Darum sind viele Konsumpreise um die Hälfte billiger. Namhafte westliche Firmen haben Filialen. Also: da wird Cash erwartet.
Bulgarien ist heute ein noch armes Land, aber die Situation bessert sich allmählich, schreibt ein Osteuropa-Report, und der Lebensstandard erscheint höher als erwartet. Die Leute sind westlich gekleidet, doch in Begegnungen sagen sie: „90 Prozent der Bevölkerung sind arm“. 

Wir erfahren im Gespräch, dass die Menschen ihre raffinierten politischen Eliten zu duldsam hinnehmen und sich darum über ihre Landsleute wundern und anerkennend auf den Mut der Rumänen sehen. Angesichts der Flüchtlingsdebatte ist zu bedenken: Bulgarien hat seit 1990 mehr als 1,6 Millionen seiner 8,7 Mio. Einwohner verloren – wegen Abwanderung. Also: Jeder fünfte Bulgare ist ausgewandert. Ein Viertel der bulgarischen Zuwanderer in Deutschland sind Akademiker, aber im Land selbst fehlen Fachkräfte, viele Häuser stehen leer, Junge sind weggezogen und ältere Menschen fristen ihr Dasein mit beschämend kleinen Renten. Zum Glück hilft die mittlere Generation. 

Die Abwanderung lässt die Bulgaren um die Existenz ihres Landes fürchten, schreibt der bulgarische Autor Ivan Krastev im Buch „Europadämmerung“.- Selbst die bleierne Zeit des Kommunismus konnte Traditionen und den orthodoxen Glauben nicht zu Fall bringen. Doch darüber in einer Folge.

Es lohnt, dieses kulturell reiche Land zu besuchen: die Welt der Klöster und Ikonen, bedeutend Museen mit Goldschätzen von und vor den Thrakern. Berühmte Bulgaren sind die Schriftsteller Elias Canetti und Trojanow und der Künstler Christo, der Gebäude wie den Berliner Reichstag 1995 ver- und enthüllte.

NGOs als Avantgarde. Staat hinkt hinterher

Hans Högl
Wir – die Vereinigung für Medienkultur – sind Mitglied des Dachverbandes Initiative Zivilgesellschaft.  In diesem Kontext erhielten wir folgendes Schreiben von
Doris Brandel und Franz Nahrada :
               „Die Zivilgesellschaft hat sich zunächst als Feuerwehr der Gesellschaft verstanden, überall dort intervenierend, wo die Not groß und das staatliche System träge oder tatenlos schien. So entstand die Armenhilfe, die private Fürsorge (besser: Sozialarbeit!). So entstand die Bewegung gegen den Hunger in der Welt und für Entwicklungsprojekte. Dann kam die Umweltbewegung, zugleich dann die wahrscheinlich kurzfristig größte der Bewegungen, die Friedensbewegung.
            Im Lauf dieser Interventionen entdeckte die Zivilgesellschaft schrittweise ihre Kraft und auch ihre Ohnmacht. Organisationen wie Amnesty entstanden, die Augenmerk auch nach innen, auf die zunehmend wahrgenommenen Schatten in unserer Gesellschaft, richten. Es wurde zunehmend klarer dass wir uns den Spielregeln dieser Welt zuwenden müssen – es genügte nicht mehr, Löcher zu stopfen. Organisationen wie ATTAC entwarfen neue Regeln für das Finanzsystem, die Gemeinwohlökonomie für das Wirtschaften.
       Doch wir stehen jetzt an einer neuen Schwelle: Wir müssen feststellen, dass auch der Prozess der Zielfindung in unserer Gesellschaft selbst erodiert und mangelhaft ist. Wir müssen uns dem Feld der Politik zuwenden. Es geht jetzt nolens volens – ums Ganze!“ Eine derartige Geschichte der Zivilgesellschaft zu schreiben wäre eigentlich notwendig, wenn wir die Dynamik und Entwicklung wirklich verstehen wollen …“
(Gastbeitrag von Doris Brandel und Franz Nahrada)