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Kapitalismus Problem oder Lösung ?

Die Rolle der Marktwirtschaft und die Armutsbekämpfung ist Thema eines jüngst erschienenen Buches. Als Beispiele werden darin die Entwicklung der Volkswirtschaften Polens und Vietnams angeführt.

Hans Högl: Buchrezension

Rainer Zitelmann (2023): Der Aufstieg des Drachen und des Weissen Adlers. Wie Nationen der Armut entkommen. München. Finanzbuch-Verlag (FBV). Mit Anmerkungen, Personenregister und Literaturverzeichnis, 208 Seiten.

Die Positionen des Autors sind ein Gegenpol zu den in Medien (so im ORF) häufig geforderten staatlichen Eingriffen und Hilfen. Und da tönt es in Medien scheinbar (?) unwillkürlich immer wieder: der Staat möge Probleme lösen. In diesem öffentlichen Diskurs fehlt der Appell zur Selbsthilfe.

Zu meiner Position als Rezensent: Ich bin für das Prinzip der Subsidiarität, befürworte freien Markt u n d bin für adäquate Sozialleistungen des Staates, vertrete also „soziale Marktwirtschaft“, ein Wort, das in Zitelmanns Buch offenbar fehlt. Im besten Fall ist es implizit gegeben im Lob des deutschen Kanzlers Ludwig Erhard.

Zitelmanns Hauptthese ist: Nur eine Gesellschaft, die Reichtum zulässt und Reichtum positiv sieht, kann Armut überwinden (S. 5). Nach den Siegen über die Franzosen und Amerikaner sollte ab 1975 in ganz Vietnam die Landwirtschaft kollektiviert werden (99 f.), obwohl dies in China und in der UdSSR gescheitert war. Die Vietnamesen begannen 1986 mit marktwirtschaftlichen Reformen, wenige Jahre später die Polen.

In beiden Ländern ist heute der Widerstand gegen freie Markwirtschaft viel geringer als in traditionell wirtschaftsliberalen Ländern. Dies belegt der Autor in weltweiten Umfragen (S. 73-91, 156 -173). Finde ein möglichst rascher Übergang von einer Planwirtschaft zu einer freien Marktwirtschaft statt, seien Widerstände gegen die Transformation geringer. Und die Leute würden bei einem Radikalwandel das Spezifikum einer freien Marktwirtschaft besser erfassen als bei einem graduellen Übergang. Dies zur Ansicht von Rainer Zitelmann.

Positives: Beeindruckend ist der Vergleich der beiden heutigen Volkswirtschaften: Polen und Vietnam. Bei einer kürzlichen Fahrt quer durch Polen staunte nicht nur ich, sondern auch Verwandte aus Schweden, über die wirtschaftlich breite Entwicklung in Polen, auch wenn dies nur rasche Eindrücke waren. In Polen kam es im Sozialismus immer wieder zu Protesten und Arbeitsniederlegungen und zur Bildung einer freien Gewerkschaft, eigentlich ein Unding in einem sozialistischen Staat.

Zitelmann ist für Marktradikalismus, also für „Neo-Liberalismus“. Seine Vorbilder sind u.a. Margaret Thatcher, Ronald Reagan. Kein Wort findet sich bei Zitelmann (es war auch nicht sein Hauptaugenmerk) auf die misslungen Privatisierungen von Margaret Thatcher – im Gesundheits- und Verkehrswesen.

Zur Radikalkur in Osteuropa. Menschen waren nach der Transformation „offiziell“ arbeitslos (de facto waren sie es bereits früher), und die älteren Menschen darbten mit Minimalpensionen. Das übersieht Zitelmann. Meist fehlten Fachleute für die Gestaltung des freien Marktes (Polen hatte zum Glück L. Balcerowicz als Finanzminister S. 6., 52). Bei langsamem Übergang blieben oft Altkommunisten an der Macht.

Michael Gorbatschow gesteht ein, es hätte für die Transformation der riesigen Planwirtschaft wie der Sowjetunion Jahre gebraucht. Das wurde unterschätzt. Folgendes fehlt bei Zitelmann: Vorgesehen war in Russland die Ausgabe von Volksaktien an Belegschaften, doch gewitzte Personen kauften den Leuten die Aktien spottbillig ab, die Arbeiter wußten nicht um deren Wert und wurden dafür mit ein paar Flaschen Wodka abgespeist (so dargestellt im Kultursender ARTE), dies wurde Kapital für die Oligarchen in Russland. Ob das im Sinne von Zitelmann wünschenswert war?

„Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung“,schreibt Zitelmann (S.15): Ausgerechnet das partiell kommunistische China trug viel dazu bei, extreme Massenarmut zu mindern: Ein pragmatischer KP-Führer sah ein, es sei wichtig, die Wirtschaft aus Fesseln zu befreien, wobei die KP die Gesamt-Macht nicht abgegeben hat.

Zitelmann vertritt die Ansicht: Wer hilft, schadet. Wir lesen nichts bei ihm über den Marshall-Plan für Europa, der uns auf die Beine geholfen hat. Sehr ausführlich geht er auf die bittere Bilanz der Entwicklungshilfe ein und übersieht in der Kritik der Projekte, dass Unsummen an Finanzhilfen an korrupte einheimische Eliten überwiesen wurden, die viel eher Eigen-Reichtum als den Wohlstand ihrer Länder im Auge hatten, also eben dies taten, was Zitelmann so wünschenswert hält…

Das Buch ist dennoch anregend, die Lektüre lohnt und bietet unbekannte Details und so eine wirtschaftliche Länderkunde Polens und Vietnams, zwei Staaten, die sich der Planwirtschaft entwunden haben. Vietnam musste sich in der langen Geschichte gegen fremde Eindringlinge zur Wehr setzen – gegen Chinesen, Mongolen, Japanern, Franzosen und Amerikanern (S. 97)

Krisen immer und überall?

Soziologe Martin Schröder zur Zufriedenheit in Deutschland

Hans Högl

Im Schweizer „Tages-Anzeiger“ wurde ich auf den Marburger Soziologen zu Aussagen über Zufriedenheit von Frauen aufmerksam. Doch schon zuvor war ein Beitrag in der „Frankfurter Allgemeinen“. Darin wird auf ein früheres Buch verwiesen mit dem Titel „Warum es uns noch nie so gut ging und wir trotzdem ständig von Krisen reden“.

Dies ist für die Medienkultur wichtig, weil in Medien fast nur von Krisen die Rede ist. (Einwand: Seit einiger Zeit bringen einzelne Medien auch die Spalte: Die gute Nachricht“). Die Aussagen des Buches von Martin Schröder, einem Soziologen aus Marburg, sind ähnlich denen im Buch „Factfulness“ von dem berühmten schwedischen Statistiker Hans Rosling. Die aufwändige Studie von Schröder zeigt, dass die soziale Wirklichkeit in Deutschland (wohl auch in Österreich) ganz anders wahrgenommen wird, als uns dies Medien vermitteln und was so im Alltag geredet wird.

Mein Buch, so schreibt Martin Schröder, „Warum es uns noch nie so gut ging und wir trotzdem ständig von Krisen reden“ zeigt, dass fast alles in Deutschland und der Welt besser wird und warum es kaum jemand merkt und davon Kenntnis nimmt.

Ich weiß … dass fast alles besser wird, klingt zu gut, um wahr zu sein. Das dachte ich jedenfalls, bevor ich zu diesem Thema recherchierte. Doch das Ergebnis war verblüffend: Es stimmt, und mittlerweile kann ich es mit objektiven Daten und repräsentativen Umfragen beweisen. Oder hätten Sie gedacht, dass kaum jemand in Deutschland unzufrieden ist? Auf einer Skala von 0-10 bewerten nur 7 Prozent der Deutschen ihre Lebenszufriedenheit mit weniger als 5 Punkten.

Hätten Sie gedacht, dass kaum jemand in Deutschland sich für arm hält? Auch das stimmt: Nur 10 Prozent aller Deutschen bezeichnen ihre wirtschaftliche Situation als schlecht oder sehr schlecht. Können Sie glauben, dass Familien in Deutschland immer mehr Zeit miteinander verbringen? Dass kaum jemand einsam ist?

Dass die Wahrscheinlichkeit, Terror- oder Gewaltopfer zu werden, noch nie so gering war? Dass die Luft- und Wasserqualität in Deutschland unvergleichlich besser ist als in der Vergangenheit? Objektive Daten zeigen genau das! Aber nicht nur in Deutschland, auch in der Welt wird das Leben in fast jeder Hinsicht besser: Verglichen mit den 50er Jahren ist beispielsweise die Wahrscheinlichkeit, in einem Krieg umzukommen, um 90 Prozent gesunken (doch nun haben wir den Ukraine-Krieg).

Noch Anfang der 1980er Jahre lebten über 40 Prozent der Menschheit in extremer Armut, selbst im Jahr 2000 waren es noch circa 30 Prozent, heute ist es nur noch einer von zehn. Mittlerweile sind zwei Drittel aller Länder der Welt demokratisch. Langfristig mehr als je zuvor. 98 Prozent aller Menschen haben heute einen höheren IQ als jemand mit durchschnittlicher Intelligenz vor 100 Jahren.

Was bewirkt ein populärwissenschaftliches Buch und was das millionenfach dargelegte Gegenteil der Medienwelt? Muss das nicht zu denken geben?

Bulgarien – Land im medialen Windschatten

Hans Högl. Sachlicher Reisebericht und Reflexionen

Nur wenige Länder in Europa bleiben medial so unbeachtet wie Bulgarien. Dies trifft auf Deutschland zu und auch auf Österreich – obgleich es ein Tor zum Osten ist, erfahren wir selten etwas über Rumänien und fast nie wirklich Substantielles mit Recherche über Bulgarien. Meine Reise mag dienen, diese Medienlücke ein wenig zu schließen.

2007 tritt Bulgarien der EU bei. Autobahnen und Schnellstraßen sind von der EU kofinanziert. Sie sind besser, als die Bulgaren selbst meinen. Gehsteige sind potenziell fußbrecherisch, Stromleitungen verwickelt und manchmal bis auf Kopfhöhe herunterhängend – so in der anmutigen Kleinstadt Balchik am Schwarzen Meer. Sofia, die Hauptstadt, putzt sich perfekt westlich heraus.

Sichtbar ist der Wunsch von Bulgaren und Bulgarinnen nach mehr Konsumgütern, so hat der Besitz von deutschen Spitzenautos hohes Prestige. Es sind ihrer gar nicht so wenige. Immerhin – es erstaunt- die Hälfte der Haushalte hat ein Auto, meist gebrauchte, berichtet ein osteuropäischer Report. Es gibt gute Hotels und Restaurants. Orts- und Straßenamen sind in kyrillischer und oft in lateinischer Schrift. Junge Bulgaren sprechen Englisch, manche Deutsch. An der Schwarzmeerküste leben insgesamt und dauerhaft 60.000 -vor allem englische Rentner, auch deutsche. Und Skandinaviern schmeckt preisgünstiger Alkohol. 

Während in Westeuropa das Jahreseinkommen Ende der 1990er Jahre noch 4-mal höher war als in Bulgarien, war es 2010 nur zweieinhalb mal so hoch. Darum sind viele Konsumpreise um die Hälfte billiger. Namhafte westliche Firmen haben Filialen. Also: da wird Cash erwartet.
Bulgarien ist heute ein noch armes Land, aber die Situation bessert sich allmählich, schreibt ein Osteuropa-Report, und der Lebensstandard erscheint höher als erwartet. Die Leute sind westlich gekleidet, doch in Begegnungen sagen sie: „90 Prozent der Bevölkerung sind arm“. 

Wir erfahren im Gespräch, dass die Menschen ihre raffinierten politischen Eliten zu duldsam hinnehmen und sich darum über ihre Landsleute wundern und anerkennend auf den Mut der Rumänen sehen. Angesichts der Flüchtlingsdebatte ist zu bedenken: Bulgarien hat seit 1990 mehr als 1,6 Millionen seiner 8,7 Mio. Einwohner verloren – wegen Abwanderung. Also: Jeder fünfte Bulgare ist ausgewandert. Ein Viertel der bulgarischen Zuwanderer in Deutschland sind Akademiker, aber im Land selbst fehlen Fachkräfte, viele Häuser stehen leer, Junge sind weggezogen und ältere Menschen fristen ihr Dasein mit beschämend kleinen Renten. Zum Glück hilft die mittlere Generation. 

Die Abwanderung lässt die Bulgaren um die Existenz ihres Landes fürchten, schreibt der bulgarische Autor Ivan Krastev im Buch „Europadämmerung“.- Selbst die bleierne Zeit des Kommunismus konnte Traditionen und den orthodoxen Glauben nicht zu Fall bringen. Doch darüber in einer Folge.

Es lohnt, dieses kulturell reiche Land zu besuchen: die Welt der Klöster und Ikonen, bedeutend Museen mit Goldschätzen von und vor den Thrakern. Berühmte Bulgaren sind die Schriftsteller Elias Canetti und Trojanow und der Künstler Christo, der Gebäude wie den Berliner Reichstag 1995 ver- und enthüllte.

NGOs als Avantgarde. Staat hinkt hinterher

Hans Högl
Wir – die Vereinigung für Medienkultur – sind Mitglied des Dachverbandes Initiative Zivilgesellschaft.  In diesem Kontext erhielten wir folgendes Schreiben von
Doris Brandel und Franz Nahrada :
               „Die Zivilgesellschaft hat sich zunächst als Feuerwehr der Gesellschaft verstanden, überall dort intervenierend, wo die Not groß und das staatliche System träge oder tatenlos schien. So entstand die Armenhilfe, die private Fürsorge (besser: Sozialarbeit!). So entstand die Bewegung gegen den Hunger in der Welt und für Entwicklungsprojekte. Dann kam die Umweltbewegung, zugleich dann die wahrscheinlich kurzfristig größte der Bewegungen, die Friedensbewegung.
            Im Lauf dieser Interventionen entdeckte die Zivilgesellschaft schrittweise ihre Kraft und auch ihre Ohnmacht. Organisationen wie Amnesty entstanden, die Augenmerk auch nach innen, auf die zunehmend wahrgenommenen Schatten in unserer Gesellschaft, richten. Es wurde zunehmend klarer dass wir uns den Spielregeln dieser Welt zuwenden müssen – es genügte nicht mehr, Löcher zu stopfen. Organisationen wie ATTAC entwarfen neue Regeln für das Finanzsystem, die Gemeinwohlökonomie für das Wirtschaften.
       Doch wir stehen jetzt an einer neuen Schwelle: Wir müssen feststellen, dass auch der Prozess der Zielfindung in unserer Gesellschaft selbst erodiert und mangelhaft ist. Wir müssen uns dem Feld der Politik zuwenden. Es geht jetzt nolens volens – ums Ganze!“ Eine derartige Geschichte der Zivilgesellschaft zu schreiben wäre eigentlich notwendig, wenn wir die Dynamik und Entwicklung wirklich verstehen wollen …“
(Gastbeitrag von Doris Brandel und Franz Nahrada)