Die Entscheidung des Westens, die NATO bis an die Grenzen Russlands auszudehnen, ist für Russlandexperten der Hauptgrund für den aktuellen Konflikt. Ein Aspekt, der in der westlichen Berichterstattung wenig bis nicht vorkommt.
Udo Bachmair
Die Ausweitung der NATO bis unmittelbar an die russische Westgrenze ist für Moskau ein tief sitzender Stachel im Fleisch seiner Sicherheitsinteressen. Die Androhung der USA und der NATO, nach den baltischen Ex-Sowjetrepubliken auch die Ukraine und Georgien als Mitglieder der westlichen Militärallianz aufzunehmen, erscheint in den Augen Russland als weitere schwerwiegende Provokation.
Die NATO-Osterweiterung mit all ihren höchst bedrohlichen Konsequenzen für den Frieden in Europa ist selten bis nie Gegenstand der Berichterstattung in westlichen Medien. Diese brandmarken nahezu unisono Russland als einzigen Provokateur und Kriegstreiber. Umso überraschender und erstaunlicher ein Bericht diese Woche in der ZiB 1 des ORF.
Unverblümt hat der ZiB 1-Bericht an die Bedenken von George Kennan erinnert, des langjährigen Osteuropa- und Russlandspezialisten sowie Planungschefs im US-Außenministerium der späten Neunziger-Jahre. Kennan bezeichnet darin eine NATO-Ostererweiterung als „verhängnisvollsten Fehler der US-Außenpolitik der Nachkriegszeit“.
In der TV-Thek des ORF ist der bemerkenswerte Beitrag noch 6 Tage abrufbar unter
https://tvthek.orf.at/profile/ZIB-1/1203/ZIB-1/14120933/Rolle-der-NATO-bei-Ukraine-Konflikt/15082555
Der Ukraine-Korrespondent des ORF, Christian Wehrschütz, hat am Mittwoch – in Ergänzung und Bestätigung des Beitrags in der ZiB-1 – auf Facebook einen Artikel von George Kennan in der „New York Times“ aus dem Jahre 1997 gepostet. Kennan hat vor der von Clinton betriebenen Ausdehnung der NATO in Richtung Russland von Anfang an gewarnt. Sein Gastbeitrag in der „New York Times“ wurde damals viel beachtet:
EIN VERHÄNGNISVOLLER IRRTUM
Von George Kennan
5. Februar 1997, New York Times, Section A, Page 23
Ende 1996 wurde der Eindruck zugelassen bzw. erweckt, dass irgendwie und irgendwo beschlossen wurde, die NATO bis an die Grenzen Russlands zu erweitern. Und dies, obwohl vor dem nächsten Gipfeltreffen des Bündnisses im Juni kein förmlicher Beschluss gefasst werden kann.
Der Zeitpunkt dieser Enthüllung – zeitgleich mit den Präsidentschaftswahlen und den damit verbundenen Veränderungen bei den verantwortlichen Persönlichkeiten in Washington – machte es dem Außenstehenden nicht leicht zu wissen, wie oder wo er ein bescheidenes Wort des Kommentars einfügen sollte. Auch die Zusicherung an die Öffentlichkeit, dass die Entscheidung, so vorläufig sie auch sein mag, unwiderruflich sei, hat die Meinung von Außenstehenden nicht gerade gefördert.
Aber hier geht es um etwas von höchster Bedeutung. Und vielleicht ist es noch nicht zu spät, um eine Ansicht zu vertreten, die, wie ich glaube, nicht nur die meine ist, sondern von einer Reihe anderer mit umfangreichen und in den meisten Fällen neueren Erfahrungen in russischen Angelegenheiten geteilt wird. Die Ansicht ist, unverblümt gesagt, dass die Erweiterung der NATO der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der gesamten Nachkriegszeit wäre.
Es ist zu erwarten, dass ein solcher Beschluss die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der russischen Öffentlichkeit anheizen, sich negativ auf die Entwicklung der russischen Demokratie auswirken, den Ost-West-Beziehungen wieder die Atmosphäre des Kalten Krieges verleihen und die russische Außenpolitik in eine Richtung lenken würde, die uns ganz und gar nicht gefällt. Und nicht zuletzt könnte es dadurch sehr viel schwieriger, wenn nicht gar unmöglich werden, die Ratifizierung des Start-II-Abkommens durch die russische Duma zu erreichen und weitere Reduzierungen der Atomwaffen zu erzielen.
Es ist natürlich bedauerlich, dass Russland mit einer solchen Herausforderung zu einer Zeit konfrontiert wird, in der sich seine Exekutive in einem Zustand großer Unsicherheit und Beinahe-Lähmung befindet. Und es ist doppelt unglücklich, wenn man bedenkt, dass es für diesen Schritt überhaupt keine Notwendigkeit gibt. Warum sollten sich die Ost-West-Beziehungen bei all den hoffnungsvollen Möglichkeiten, die das Ende des Kalten Krieges mit sich bringt, auf die Frage konzentrieren, wer mit wem und damit gegen wen in irgendeinem phantastischen, völlig unvorhersehbaren und höchst unwahrscheinlichen künftigen militärischen Konflikt verbündet sein wird?
Ich bin mir natürlich bewusst, dass die NATO Gespräche mit den russischen Behörden führt, in der Hoffnung, Russland den Gedanken einer Erweiterung erträglich und schmackhaft zu machen. Unter den gegebenen Umständen kann man diesen Bemühungen nur Erfolg wünschen. Wer jedoch die russische Presse ernsthaft verfolgt, kann nicht umhin festzustellen, dass weder die Öffentlichkeit noch die Regierung die geplante Erweiterung abwarten werden, bevor sie darauf reagieren.
Die Russen sind wenig beeindruckt von amerikanischen Beteuerungen, dass sie keine feindlichen Absichten hegen. Sie würden ihr Prestige (das für die Russen immer an erster Stelle steht) und ihre Sicherheitsinteressen beeinträchtigt sehen. Natürlich hätten sie keine andere Wahl, als die Expansion als militärische Tatsache zu akzeptieren. Aber sie würden sie weiterhin als eine Brüskierung durch den Westens betrachten und wahrscheinlich anderswo nach Garantien für eine sichere und hoffnungsvolle Zukunft für sich selbst suchen.
Es wird natürlich nicht leicht sein, eine bereits getroffene oder von den 16 Mitgliedsländern der Allianz stillschweigend akzeptierte Entscheidung zu ändern. Vielleicht kann diese Zeit genutzt werden, um die vorgeschlagene Erweiterung in einer Weise zu ändern, die die unglücklichen Auswirkungen, die sie bereits auf die russische Meinung und Politik hat, abmildern würde.