Ein Bekannter sagte mir, er finde in der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ sonst kaum anzutreffende Perspektiven. So erging es mir mit einem Beitrag in der letzten Ausgabe der ZEIT, wo es um die Chancen der Kanzlerkandidaten in Deutschland geht. Die ZEIT bietet eine völlig andere Sicht als sonst übliche Korrespondentenberichte. Ich habe die interessantesten Textteile herausgenommen.
Hans Högl
Bei Armin Laschet gehen die Sozialdemokraten davon aus, dass er bleibt, was er ist: ein Kandidat, den selbst Teile der eigenen Leute nicht wollen. Mit wachsender Freude betrachten sie die Äußerungen von Markus Söder und Friedrich Merz. Der Erste stichelt weiter gegen Laschet, und der Zweite tritt so großspurig auf, dass der eigene Kandidat noch kleiner wirkt, als ihn der Machtkampf mit Söder bereits gemacht hat.
Die eine zu unerfahren, der andere beschädigt – nicht ausgeschlossen, so glaubt man bei den Sozialdemokraten, dass mehr Menschen als erwartet im Herbst sagen werden: »Dann nehmen wir doch den Ansagertypen mit dem Büroleiter-Charme.« Dass am Ende die verlässliche Autorität mehr wiegen könnte als der Reiz des Aufbruchs – darin liegt eine erste Chance von Olaf Scholz. Die zweite liegt darin, dass die SPD zumindest in Grundzügen etwas vorweisen kann, wonach die Union noch sucht: eine Botschaft.
Die vergangenen Corona-Monate haben gezeigt, wie krisenanfällig Staat und Land sind: Ein Gesundheitssystem, das Pflegekräfte so lange ausbeutet, bis sie davonlaufen; Gesundheitsämter, für die digitale Vernetzung Science-Fiction ist; Heerscharen von prekär Beschäftigten, die ihren Job verlieren. Schulen, die Lernplattformen erst in dem Moment kennenlernen, da der Unterricht von ihnen abhängt.
Nimmt man andere Krisenerfahrungen – die Finanzkrise, Terroranschläge, den Klimawandel – sowie bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen – schwindende soziale Durchlässigkeit, wachsende Einkommensspreizung, explodierende Mieten – hinzu, ergibt sich das Bild eines Gemeinwesens, das sich selbst gefährdet. Aufgabe der Sozialdemokraten ist es, so sehen es ihre Strategen, den Staat widerstandsfähiger zu machen gegen externe Krisen wie interne Spannungen. Der vorsorgende und widerstandsfähige (neudeutsch: resiliente) Staat böte die Rahmenerzählung für einen Wahlkampf, bei dem die SPD Traditionelles (bessere Löhne in der Pflege, bezahlbarer Wohnraum) mit Neuem (klimaneutraler Arbeitsplatz, Kita-Platz per Mausklick) verbinden könnte und zugleich eine weitere Sehnsucht aufgreifen würde: die nach Sicherheit.
Als Vorteil erweist sich hierbei, dass Olaf Scholz mittlerweile aus dem Gefängnis der schwarzen Null ausgebrochen ist, in das er sich selbst und seine Partei lange Zeit eingekerkert hatte. Am benötigten Geld wird der widerstandsfähige Staat jedenfalls nicht scheitern. Und auch die Bevölkerung hat in der Corona-Krise über den Umgang mit Geld etwas gelernt: Ein besseres Gesundheitswesen kann man sich nicht herbeisparen.
Eine entzauberte Baerbock, ein dauerschwacher Laschet, die verlässliche Autorität eines Olaf Scholz und dazu ein Thema, hinter dem sich die Partei versammeln kann und das aus den Krisenerfahrungen der Menschen erwächst – das ist der Mix, auf dem die Hoffnungen der SPD beruhen. Fehlen nur noch zwei Dinge: die nötige Zuspitzung. Und ein Olaf Scholz, der sich endlich aus der Zwangsjacke des Merkel-ergebenen Vizekanzlers befreit und so auftritt, wie die SPD ihn auf und nach ihrem Parteitag am 9. Mai nur noch sehen will – als ihren Kanzlerkandidaten.