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Israel-Kritik antisemitisch?

In Medien und Politik wächst die Empörung über Israels erbarmungsloses Vorgehen in Gaza. Umso mehr schwingen andere Akteure die Keule des Antisemitismus gegen all diejenigen, die es wagen, die überaus brutale Kriegsführung Netanjahus zu kritisieren.

Adalbert Krims *

Mir geht inzwischen die ganze Antisemitismus-Debatte ziemlich auf die Nerven. Heinz Fischer wurde niedergemacht (von Muzicant bis Sobotka), weil er davor warnte, dass Netanjahus Politik in Israel zu einer Verstärkung des Antisemitismus in der Welt beiträgt. Ihm wurde das Wort im Munde umgedreht und ihm vorgeworfen, dass er indirekt gesagt hätte, „die Juden sind selbst am Antisemitismus schuld“. Natürlich hat er das weder gesagt noch gemeint – im Gegenteil. Allerdings: von den selben Leuten (von Muzicant bis Sobotka) wird ständig Kritik an der israelischen Kriegsführung in Gaza als „antisemitisch“ diffamiert. Wenn es aber so ist, dass Kritik am Gazakrieg „antisemitisch“ ist, dann würde es sogar zutreffen, dass Netanjahu Antisemitismus fördert.

Manche meinen dann, Kritik an der Kriegsführung an sich sei als solche noch nicht antisemitisch. Aber antisemisch sei es, wenn man jüdische Personen oder Institutionen in irgendeiner Weise für die Politik Israels (mit)verantwortlich mache. Dazu fallen mir jetzt aber die islamistischen Terroranschläge ein: Nach jedem Anschlag wird von der Islamischen Glaubensgemeinschaft und auch von allen Muslimen verlangt, dass sie sich davon distanzieren. Das tun sie übrigens normalerweise eh, aber sie sagen manchmal auch, warum sollen wir uns von etwas distanzieren, mit dem wir nichts zu tun haben. Dann wird eingewendet, der Terror finde ja unter Berufung auf den Islam statt.

Ich frage mich dann aber, warum man von Muslimen solche Distanzierungen verlangt, widrigenfalls ihnen eine (zumindest moralische) Mitverantwortung an islamistischen Anschlägen gegeben wird, dass man aber akzeptiert, wenn jüdische Personen und Institutionen die israelische Kriegsführung in Gaza nicht nur nicht kritisieren, sondern sogar öffentlich gutheißen und verteidigen. Wenn man ihnen aber eine „moralische Mitverantwortung‘“ geben würde, wäre das in ihren Augen aber Ausdruck von „Antisemitismus“. In diesem Zusammenhang ist mir eine bemerkenswerte Aussage von Bischof Hermann Glettler in den sozialen Medien am 6. Mai d. J. aufgefallen, der dort formulierte: „Ich hoffe so sehr, dass sich die jüdischen Gemeinden weltweit zu Wort melden und deutlich erklären, dass sie mit dieser brutalen Kriegs-Politik Netanjahus und seinem rechtsgerichteten Kabinett längst nicht mehr einverstanden sind. Bitten wir um Geist und Mut, dass diese verheerende Verletzung der Menschenrechte aufhört – und trotz der vielfältigen Bedrängnisse und der schwierigen politischen Situation doch nicht dauerhaft Vernichtung und Hass gewählt wird, sondern zumindest ein Grundmaß an Menschlichkeit!“

Mir ist es übrigens vor wenigen Monaten auf Facebook passiert, dass mich eine Frau bei der Antisemitismus-Meldestelle der Israelitischen Kultusgemeinde gemeldet hat. Grund: Sie hatte geschrieben, Israel müsse den Krieg in Gaza so lange fortsetzen, bis alle Geiseln befreit sind. Ich hatte geantwortet: „Das heißt, dass bis dahin weiter zerstört und Frauen und Kinder getötet werden dürfen“. Diese Antwort wurde als „antisemitisch“ gemeldet und ist damit Teil der von der Kultusgemeinde registrierten steigenden Antisemitismus-Vorfälle in Österreich.

Andererseits bin ich manchmal über mich selbst entsetzt, wenn ich inzwischen auf das Wort „Antisemitismus“ schon fast allergisch reagiere. Denn ich habe mich seit meiner Jugend als Antifaschist verstanden – und dazu gehörte für mich immer auch der Kampf gegen den Antisemitismus (und Rassismus überhaupt). Die heutige Antisemitismus-Debatte empfinde ich allerdings als politischen Missbrauch zur Rechtfertigung einer israelischen Kriegsführung, die immer offener völkermörderische Züge annimmt. In Wirklichkeit wird durch diese Debatte nicht nur der historische (nicht zuletzt kirchliche) und leider immer noch aktuelle wirkliche Antisemitismus, sondern auch der Holocaust relativiert und verharmlost.

* Gastautor und Ex-ORF-Redakteur Adalbert Krims lebt als besonders kundiger und engagierter Politanalyst in Wien

Aufschrei einer engagierten Christin

Die niederländisch/deutsche Dominikanerschwester Yosé Höhne Sparborth hat deutliche Worte gegen das Massensterben in Gaza gefunden. Sie appelliert an Medien und Politik, darauf einzuwirken, weiteres Blutvergießen sofort zu stoppen. Im Folgenden ein Text der Autorin, den uns Adalbert Krims zur Verfügung gestellt hat.

Yosé Höhne Sparborth *

Vor drei Wochen beendete ich eine Bibelstunde mit der Bemerkung:

„Seit 75 Jahren lassen wir Europäer das palästinensische Volk stellvertretend erleiden und „büßen”, was wir Europäer dem jüdischen Volk Jahrhundertelang erleiden ließen mit dem beschämenden Tiefpunkt des Holocaust. 75 Jahre lang schon schauen „wir” europäische Völker zu, wie das palästinensische Volk die Rechnung serviert bekommt und die Folgen zu tragen hat für dieses jahrhundertelange europäische Verbrechen.

Eigentlich schon lange, aber jedenfalls jetzt sollten also europäische Politiker alles tun, um Netanyahu zu stoppen bei diesem langsamen Massenmord. Alles tun, bis beide Völker eigenen Lebensraum erlangen und als Nachbarn leben können. Keine weiteren „Interessen” des „Westens” dürfen hier noch berücksichtigt werden oder die westliche Politik bestimmen. Es reicht jetzt! Es reichte schon lange!

Unbegreiflich ist für mich ist, wie deutsche Politiker nicht durchschauen, dass sie eine neue historische Schuld auf sich laden! Deutschland organisiert in diesen Tagen, Wochen, ein „Wieder”!
Wieder ein Volk, das dem nationalen deutschen Volksempfinden geopfert wird… Und manche europäische Politiker machen mit. Oder schauen zu.

Ich, ursprünglich als Deutsche geboren, mit niederländischem Pass, Tochter eines deutschen Antifaschisten (und einer Niederländerin), der Dachau erleben musste, weil er sich weigerte, Juden zu entlassen, weil er nicht mitmachte mit dem allgemeinen Judenhass. Ich muss mich wieder einmal schämen für mein Volk, das mehr zu eigenen Gefühlen steht als zu den realen Verhältnissen im Nahen Osten. Ist dieses Volk unfähig zu lernen aus der Geschichte?

* Die Dominikanerschwester Yosé Höhne Sparborth war in der niederländischen katholischen Basisbewegung, später in der Friedensbewegung aktiv.

Demokratie ohne Gedächtnis

Heribert Prantl („Süddeutsche“) will Geschichte revitalisieren. Bemerkenswerte Zitate des renommierten Journalisten aus einem Artikel im „Publik-Forum“.

Hans H ö g l: Ein Medienschmankerl

„Die deutsche Demokratie ist bisher eine Demokratie ohne Gedächtnis und ohne Erinnerung.“ Deutschlands demokratische Anfänge liegen bei 1848 und schon beim Hambacher Fest 1832 (Vgl. Nr. 9/2023 „Publik-Forum“, S. 20 f). Der Holocaust, so schreibt Prantl, ist für die deutsche Publizistik ein schwarzes Loch. Alles wird daraufhin interpretiert und was zuvor war, existiert nicht- so auch nicht die deutsche Geschichte zur Entstehung der Demokratie.

Von der Astronomie ist bekannt, dass schwarze Löcher alles verschlucken. Dies betrifft analog gesehen Zeitgeschichte. Warum ist das so, fragt Prantl: „Weil Hitlers Visage so geschichtsmächtig ist? Weil NS-Verbrechen in ihrer Ungeheuerlichkeit wie ein schwarz-braunes Loch funktionieren? Demokratien sind wie Bäume. Sie brauchen Wurzeln.“