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Bruno Kreisky aktuell

Bruno Kreiskys Idee eines Marshallplans für die Dritte Welt erscheint aktueller denn je. Unser Gastautor hat sich dieser komplexen Thematik angenommen:

Wolfgang Koppler *

Zufällig überflog ich die Beiträge der Vereinigung für Medienkultur aus den letzten Wochen, als mir der Artikel „BRICS-Staaten für globale Entwicklungsbank“ vom 19.9. ins Auge stach. Hans Högl nimmt darin dankenswerter Weise Bezug auf einen Aufsatz von Thomas Roithner in der Furche zum von unseren Medien – insbesondere im Ukrainekrieg – stark vernachlässigten Thema Geoökonomie und erwähnt den Plan der BRICS-Staaten zur Schaffung einer „New Development Bank“ als Gegengewicht zu den von den USA nach wie vor forcierten Brettonwoods-Institutionen Weltbank und IWF zur Finanzierung von Entwicklungs- und Infrastrukturprojekten in den so genannten „ärmeren Ländern“.

Nur wenigen Journalisten dürfte bekannt sein, dass schon seit mehr als 60 Jahren die Idee eines Marshallplans für die Dritte Welt (wie man den globalen Süden damals nannte) existiert. Sie stammt von Bruno Kreisky, weshalb der Plan 1984 nach ihm benannt wurde. Sein diesbezügliches Engagement wurde schon in seiner Jugendzeit geweckt im Zuge der damals aktuellen antikolonialen Bewegung und später verstärkt durch seine Begegnung mit Nehru. Anfang der 60-er Jahre kam es auf seine Initiative zu einer Konferenz für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft und in der Folge zur Gründung des bis heute existierenden Wiener Instituts für Entwicklungsfragen.

Kreisky war der Ansicht, dass der ERP-Fonds aus dem Marshallplan, der (West-)Europa wirtschaftlich wieder auf die Beine geholfen hatte (und der durch Kreditrückzahlungen bis heute immer wieder aufgefüllt wird) zumindest teilweise umgewidmet werden sollte, um die Finanzierung von Infrastrukturprojekten in Entwicklungsländern zu ermöglichen. Wobei Kreisky dabei Summen in Höhe von mehreren Hundert Milliarden Dollar vorschwebten, die von Europa als Ganzes aufgebracht werden sollten (vielleicht etwas sinnvoller als der Ukrainekrieg). Dazu konnten die USA und Europa sich bis heute nicht entschließen. Statt dessen führen die oft für wenig zweckmäßige Projekte verwendeten Kredite der Weltbank (Stichwort: Festhalten an Brettonwoods) zu immer weiterer Verschuldung des globalen Südens. Der Zinsanstieg der letzten Jahre verstärkt diese Armutsfalle. Kein Wunder, dass die BRiCS-Staaten nach Auswegen aus dem Finanzsystem des Westens suchen (wobei Staaten wie China und Russland natürlich ihre eigenen Interessen verfolgen, was aber nichts an der Problematik von Brettonwoods für den globalen Süden ändert):

Zum Schluss einige Sätze aus Kreiskys Biographie „Im Strom der Politik“ (S 261 ff.), die nach wie vor hochaktuell erscheinen:

„Die Welt ist so klein geworden, dass politische Grenzen der Solidarität von Mensch zu Mensch nicht Einhalt gebieten können…Ich war der Ansicht, dass man den Entwicklungsländern, je nach ihrem Reifegrad mit einer multilateralen Vereinbarung helfen müsse, die ihnen angemessene Infrastruktur zu schaffen…Dass ich mit meiner Empfehlung den Ausbau des Eisenbahnnetzes voranzutreiben, zuletzt nicht falsch lag, geht daraus hervor, dass die Schulden der Länder der Dritten Welt zum großen Teil auf die während vieler Jahre sehr hohen Ölpreise zurückzuführen sind…“

Und vielleicht noch etwas von Kreisky zum Thema Visionen:
„Aber eines hat die Imagination dem Kleinmut des Krämers voraus: Sie schafft langfristige Perspektiven, für die es sich einzusetzen lohnt.“

Wer Visionen hat, braucht also nicht unbedingt einen Arzt.

Abgesehen von einigen zeitbezogenen Stellen sind Kreiskys Ausführungen nach wie vor sehr aktuell. Vielleicht sollten einige Journalisten und Politiker -unabhängig von ihrer politischen Einstellung – vielleicht weniger Kreisky-Bashing betreiben und statt dessen einmal seine Biographie zur Hand nehmen. Es kann nicht schaden, wieder ein gutes Buch zu lesen. Es beißt nicht.

* Mag. Wolfgang Koppler lebt als Jurist und freier Journalist in Wien

Visionen für den ORF

Medienpolitik hat in den türkis-grünen Regierungsverhandlungen offenbar keine dominante Rolle gespielt. Dabei wäre diese Thematik nicht zuletzt auch demokratiepolitisch von großem Belang, vor allem bezogen auf die Zukunft des ORF.

Udo Bachmair

Eine intensive medienpolitische Debatte wäre höchst überfällig. Das thematische Spektrum würde dabei von unvertretbar hohen Förderungen für den Boulevard bis hin zur Finanzierung und Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks reichen. So ist seit längerem bereits ein neues ORF-Gesetz geplant.

Bei einem Fortbestand der schwarz-blauen Koalition wäre das Überleben des ORF bedroht gewesen, konstatieren medienpolitische Experten. Demnach gab es die Absicht, Gebühreneinnahmen zu streichen und einen Teil des finanziellen Ausfalls aus dem Bundesbudget zu berappen.

Die Folge davon wäre eine noch größere Abhängigkeit des ORF von den jeweils Regierenden gewesen. Zudem hätte die Gefahr weiterer Attacken aus dem Kreis der FPÖ-Regierungspolitiker auf unabhängige ORF-JournalistInnen bestanden.

Folgt man weiteren Äußerungen aus dem rechten politischen Lager, so wäre bei einer Neuauflage der abgewählten Koalition eine Orbanisierung der österreichischen Medienlandschaft nicht auszuschließen gewesen, argumentieren kritische Beobachter.

Vor diesem Hintergrund kommt dem öffentlich-rechtlichen Rundfunks besondere Bedeutung und Verantwortung zu. Dies steht jedoch nicht im Widerspruch zur Notwendigkeit von Reformen und Visionen für einen erneuerten ORF.

Golli Marboe hat dazu in der Wiener Zeitung einen bemerkenswerten Gastkommentar verfasst, den ich Ihnen nicht vorenthalten will.

„Neue Ziele und Visionen für einen öffentlich-rechtlichen ORF“

Golli Marboe

Nun steht also bald eine türkis-grüne Koalition. Diese sollte sich neben anderen wichtigen Themen auch um ein neues ORF-Gesetz kümmern, das tatsächlich bitter nötig ist. Es sollte aber nicht unabhängig von folgenden vier anderen Themenkreisen besprochen oder gar beschlossen werden:

>> die Vergabe von Inseraten aus Mitteln der öffentlichen Hand (zirka 200 Millionen Euro pro Jahr, bisher vornehmlich an Boulevardmedien);
>> die Vergabekriterien der Privatrundfunkförderung der RTR (20 Millionen Euro pro Jahr, bisher vornehmlich an Oe24, Servus TV und krone.tv);
>> eine Überarbeitung der Presseförderung (derzeit nicht einmal 10 Millionen Euro);
>> eine „Google-Steuer“ für Konzerne aus dem Silicon Valley, die in Europa unheimliche Gewinne an Geld und Daten einfahren, aber praktisch keine Steuern zahlen.

Medienförderung nur für Mitglieder des Presserats

Was hat das alles mit dem ORF zu tun? Der ORF – und insbesondere der Radiosender Ö1 – gilt als das mit Abstand glaubwürdigste Medium des Landes. Und um diese Glaubwürdigkeit als Quelle für kompetente Information auch in Zukunft zu gewährleisten, müssen die Rahmenbedingen des ORF in einem neuen Gesetz weiterentwickelt werden. Das gilt vor allem für eine Verbreitung der ORF-Programme im Online-Bereich, denn hier gilt ja nach wie vor die tatsächlich nicht mehr zeitgemäße Regelung, dass ORF-Inhalte maximal sieben Tage nach Ausstrahlung zur Verfügung stehen dürfen, was ganz konkret bei zeitgeschichtlichen Ereignissen besonders schade ist: Zum Beispiel, wenn man an jenen Samstag im Mai denkt, an dem ganz Österreich auf das Statement von Altbundeskanzler Sebastian Kurz wartete, da waren Millionen Seher beim ORF – als der vierten Säule unserer liberalen Demokratie – versammelt.

Die Berichterstattung im ORF war umfassend, analytisch, sympathisch und von einer Ausgewogenheit, die man in privaten elektronischen Medien nicht finden könnte: So wurde etwa im EU-Wahlkampf bei Puls 4 die Zweierdiskussion von Claudia Gamon (Neos) mit Johannes Voggenhuber (Europa Jetzt) wegen möglicher schwacher Quoten aus dem Programm genommen (FPÖ-Kandidat Harald Vilimsky hingegen bekam seine Bühne). Und sowohl bei „Fellner Live“ auf OE24 als auch im „Talk im Hangar“ bei Servus TV gehört ein gewisser Martin Sellner (Chef der Identitären) offenbar zu den Stammgästen der beiden vom RTR-Privatmedienfördertopf profitierenden Sender. Eine staatliche Unterstützung sollte in Zukunft grundsätzlich nur an jene Medien vergeben werden, die Mitglied im Presserat sind und sich dementsprechend an journalistische Grundregeln halten.

Neue Ziele und Visionen für den öffentlich-rechtlichen ORF

Medienpolitik war in den türkis-grünen Koalitionsgesprächen (bisher) leider kein Thema. Insbesondere manche ÖVP-Politiker sollten sich beispielsweise die Frage stellen, ob Markus Breitenecker, der Chef von ProSiebenSat.1Puls4, damit durchkommt, das mit Gebühren finanzierte ORF-Archiv für seine Plattformen zugänglich zu machen. Sein Appell für eine europäische Allianz gegen Google und Co. scheint wenig glaubwürdig, wenn man bedenkt, dass sein Medienkonzern selbst ein börsennotiertes Unternehmen mit auf Gewinn ausgerichteter Zielsetzung ist. Öffentlich-rechtliche Sender, allen voran die BBC (aber eben auch der ORF), orientieren sich hingegen an demokratischen und nicht an marktorientierten Richtlinien.

Der ORF könnte durch ein neues Gesetz wieder Ziele und Visionen entwickeln. Vor allem, wenn die Landesstudios überregionale Aufgaben erhalten, um eben nicht nur über deren Landeshauptleute berichten zu müssen. Warum wird nicht zum Beispiel ORF1 von Graz aus gestaltet, in einen Doku- und Reportagesender verwandelt und in verschiedenen mitteleuropäischen Sprachen (Deutsch, Ungarisch, Serbisch, Kroatisch, Albanisch, Tschechisch, Slowakisch) ausgestrahlt? Ganz nach dem Vorbild von Arte, das seinerzeit von Präsident François Mitterand und Kanzler Helmut Kohl mit dem Ziel initiiert wurde, das Alltagsverständnis zwischen Frankreich und Deutschland zu verbessern. Ein TV-Anbieter unter Federführung des ORF, das wäre eine Vision für den gemeinsamen Lebensraum Mitteleuropa.

Warum wird nicht ORF Sport+ nach Innsbruck übersiedelt und dort dann an einem Sportjournalismus gearbeitet, der nicht nur die Sieger verherrlicht (und damit den Populismus fördert), sondern das System Sport in all seinen Facetten durchaus auch in Frage stellt? Warum entsteht nicht in Linz in Kooperation mit der Ars Electonica ein Cluster für Kinder- und Jugendprogramme? Dafür sollte vom Gesetzgeber vorgesehen werden, dass der ORF für Sportrechte maximal so viele Mittel aufwenden darf wie für Kinder-Content. Denn der ORF gibt seit Jahren für Formel 1, DTM und Ähnliches das 20-Fache dessen aus, was für das gesamte Kinder- und Jugendprogramm zur Verfügung steht.

Warum mutet ORF III wie ein Sender für Heimatverbundene an? Der teilweise in Salzburg angesiedelte Kultur- und Informationssender orientiert sich offenbar am Charakter von Servus TV und leider nicht am journalistischen Selbstverständnis der beiden großartigen Radioprogramme Ö1 und FM4. Wo findet sich eine Plattform für heimische Künstlerinnen und Künstler (auch solche, die noch keine breite Öffentlichkeit erreichen) oder für Formate, die in und mit dem Netz entwickelt sind, wie auf arte.tv oder auf funk.net, dem Content-Netzwerk von ARD und ZDF?

Werbesendungen, die „Magazine“ genannt werden

Es gibt Formate, die der ORF tatsächlich als „Magazin“ bezeichnet, die man in anderen öffentlich-rechtlichen Sendern der Erde aber ganz bestimmt als Werbesendungen der Autoindustrie bezeichnen würde: „mobilitas“ und „Autofokus“ huldigen in ihren Sendungen Sportwagen oder dem Dieselmotor. Da werden Autofahrer interviewt, die sich über die Staus im Pendlerverkehr beschweren, aber dabei jeweils allein im Autos sitzen . . . Der ORF muss unbedingt werbefrei werden, um auf derlei Produkte konsequent verzichten zu können. Außerdem würden damit dann auch die Mittel aus der Werbewirtschaft für die Privatmedien aus dem Print-, TV-, Radio- und Online-Markt frei werden.

In Deutschland wurde vor wenigen Jahren höchst erfolgreich eine Haushaltsabgabe eingeführt. Damit zahlt jede und jeder Einzelne weniger als früher, die Sender haben dennoch die gleichen Mittel für das öffentlich-rechtliche Programm zur Verfügung. Darüber hinaus gibt es auch eine Einigung zwischen den Verlegern Deutschlands und den öffentlich-rechtlichen Sendern zur Nutzung des Netzes. ARD und ZDF widmen sich den Bewegtbild- und Audioangeboten, die Verlage gehen in deren Online-Angeboten von ihren Printprodukten aus. Damit wurde die zeitliche Beschränkung der Bereitstellung der TV- und Radioprogramme im Netz für die Sender gekippt.

In diesem Sinne sollte sich der ORF ebenfalls auf seine originären Aufgaben – Bewegtbild und Audio im Netz – konzentrieren. Ein modernes Medienhaus braucht eine Abteilung aus Daten- und investigativen Journalistinnen und Journalisten. Die Kollegen von dossier.at machen vor, was der ORF selbstverständlich tun sollte: beispielsweise beobachten, was die öffentliche Hand an Inseraten im Boulevard schaltet, statt in Presseförderung der Qualitätszeitungen zu investieren (knapp 10 Millionen Euro Presseförderung für Qualitätszeitungen stehen um die 200 Millionen für Inserate in „Heute“, „Krone“ und „Österreich“ gegenüber).

Barrierefreiheit als Selbstverständlichkeit

In spätestens fünf Jahren sollten sämtliche ORF-Programme mit Untertiteln und Audiodeskription zur Verfügung stehen. Es bleibt ein Rätsel, warum ein Konzern mit rund einer Milliarde Euro Jahresumsatz nicht in der Lage ist, das meistgesehene Format des ORF-Fernsehens, nämlich „Bundesland heute“, barrierefrei auszustrahlen.

Wie kann man all das finanzieren? Indem man das ORF-Budget umschichtet. Wenn man ORF E – einen Tochterbetrieb, der bisher primär Werbekunden akquiriert und Marketingaktivitäten betreut – umbaut und daraus eine Unit bildet, die sich um Partner für Programminhalte kümmert. Statt für die von der Werbewirtschaft geforderten Einwegprodukte, wie Sport und US-Serien, sollten die vorhandenen Mittel in Co-Produktionen mit anderen Sendern und vor allem mit europäischen Produzenten investiert werden.
Damit entstünde nicht nur Wertschöpfung, sondern auch eine gewisse Nachhaltigkeit für das wichtigste Lebensmittel unserer Zeit: Medien und Daten. Denn weder die Beiträge in Sozialen Medien noch die Postings unter Zeitungsartikeln wie diesem können die journalistische Qualität von Sendungen wie „ZiB 2“, „Morgenjournal“, „Kreuz und Quer“ oder Satireformaten wie den „Staatskünstlern“ ersetzen. Oder eben auch einer Live-Berichterstattung vom Ballhausplatz wie am 18. Mai 2019.

Zum Autor des Beitrags:
Golli Marboe war lange Jahre TV-Produzent, ist heute Vortragender zu Medienfragen, moderiert und gestaltet redaktionell das Medienmagazin „Content“. Er ist außerdem Obmann des Vereins zur Förderung eines selbstbestimmten Umgangs mit Medien sowie Mitglied des ORF-Publikumsrates (nominiert vom Neos Lab).