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Es müssen noch viele Mauern fallen. Mauerfall 1989

Österreichs Medien berichten über Tschechien, wenn ihr Ministerpräsident einen Skandal hat. Über die Lebenssituation der Menschen des Nachbarlandes erfahren wir kaum etwas.

Hans Högl. Reportage

Eine Tagesexkursion führte unsere Gruppe nach Mähren. Gleich nach der österreichischen Grenze fallen die riesigen landwirtschaftlichen Flächen auf. Sie sind gut bestellt, nicht vernachlässigt wie ich dies in der Westukraine nahe eines Dorfes erlebte mit dem netten Namen übersetzt auf Deutsch „Gute-Nacht-Dorf“. Nein – die Felder in Mähren erscheinen gut bestellt.

Dem Kern meines Gesprächs mit dem Reiseleiter, einem Österreicher mit tschechischen Wurzeln, schicke ich eine andere Stellungnahme voraus. Er sagte, dass die Bauern unter den Kommunisten oft gar nicht so unzufrieden waren. Sie hatten meist ein bißchen Grund und Boden und konnten sich selbst versorgen. Um marxistische Theorien kümmerten sie sich nicht. Aber so unzufrieden waren sie nicht, sie hatten sichere Arbeitsplätze. Ähnliches erfuhr ich in Gesprächen in Bulgarien mit dem Hinweis, dass die Periode nach der Wende „furchtbar schwierig war“ (Vgl. früheren Blog).

Zu meiner Bemerkung zum Reiseleiter: „Eigentlich erfahren wir über Medien von Tschechien nur dann etwas, wenn sich ihr Ministerpräsident etwas zu Schulden kommen lässt.“ Der Reiseleiter: „Nein, so ist es nicht so. In der Zeitschrift Respekt findet man Beiträge über die Lebenssituation in Böhmen und Mähren.“ Leider: Die Zeitschrift „Respekt“ ist tschechisch geschrieben. Davon sind keine Berichte in maßgeblichen Medien Österreichs, vielleicht in Spezialmagazinen. Die Begleiterin des Reiseleiters pflichtet mir indirekt bei und sagt. Bei einer Begegnung ihrer österreichischen Schule mit einer ungarischen staunte sie nicht wenig, dass das ungarische Schulsystem ein völlig anderes ist. „Und wir in Österreich haben keine Ahnung davon, obwohl wir nur 50 km davon entfernt sind.“

Zurück zum Thema der überdimensional großen Feldern in Mähren. Dazu sagte mit bedrückter Stimme der Reiseleiter: „Das ist eine traurige Geschichte. Nach der Wende gab es die Coupon-Wirtschaft. Den ehemaligen Bauern wurden Papiere, Aktien, angeboten. Sie verstanden nicht, worum es sich handelte oder waren ihrer Landwirtschaft durch die lange Periode des Kommunismus entfremdet oder sahen sich nicht imstande, landwirtschaftliche Maschinen anzuschaffen. Und so kamen die Felder in die Hände von Oligarchen. Oder sie gehören den Banken“. Also an Personen, die den Kommunisten nahestanden oder waren. Sie rissen sich die Felder unter die Nägel. Ähnliches berichtete ARTE über die Ex-Sowjetunion: Den Arbeiter von großen Fabriken wurde nach der Wende Aktien angeboten. Gewiefte Manager gaben den Arbeitern zwei Flaschen Wodka und übertölpelten die Werktätigen. Und so kamen die Fabriken in die Hände von Oligarchen.

In Tschechien haben wir nun den Typus von Großgrundbesitzer. Kritik bei uns trifft aber die fernen Großgrundbesitzer Lateinamerikas. Wir und unsere Medien haben den Mauerfall mental noch nicht verarbeitet und tragen in unseren Köpfen Grenzbalken.