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Leben „kleiner“ Leute: Dorf in Russland

Perle im Fernsehen – entdeckt in bewusster Wahl

Hans Högl

Aus Metropolen kommen Auslandsberichte, handeln von großer Politik, kaum vom Leben gewöhnlicher Leute. Die Sendung „Dorf im Süd-Ural“ war anders, gedreht vom NDR, gesendet von Arte am 5. Dezember. Hier – nahe an sanften Waldhügeln und doch mit Feldern und Eigengärten – leben in kleinen Häusern und Hütten knapp tausend Menschen, Tataren und Russen, Christen und Moslems. Friedlich – die Jüngeren auch miteinander Ball-spielend. „Sie sind doch alle Menschen“, sagt ein zeitungslesender Pensionist – „Warum kämpfen sie dort miteinander?“

Unser Ort liegt vier Flugstunden von Moskau. Welche Ausländer verirren sich hierher? Wir sehen alltägliches Tun der Leute, ihr Sich-Selbst-Versorgen mit Milch, Kartoffeln, Pilzen, Fischen. Der Garten einer alten Frau ist voll an Unkraut, früher konnte sie davon überleben. Alles ist überaus bescheiden wie in den 50-igern in Mitteleuropa und doch anders: Einer Mutter missfällt, dass ihr Sohn nur vor dem Computer sitzt und bewegt ihn zur Mitarbeit auf der Viehweide. Schulkinder, chic gekleidet, tragen – ähnlich wie bei uns – schwere Taschen am Rücken.

Halbwüchsige Mädchen lockt das Leben in der Stadt. Doch die meisten Leute schätzen einfaches Leben und die herzliche Gemeinschaft, und wir vernehmen den Klang russischer Worte. Die Stadt ist fern, sie fahren dort hin, wenn etwas nötig ist

Männer sind geschickt in diversem Handwerk, bauen selbst ein Haus und verschulden sich auf Jahrzehnte. Eine Frau kocht ihrem Mann zum Abschied eine gute Fischsuppe; denn morgen geht`s nach Sibirien in die Arbeit in Gaswerken – auf sechs Monate. Beim Paar lebt von den fünf Kindern nur ein Nachzügler.

Doch was ist reales Leben in einem Staat von kontinentalem Ausmaß und zehn (!) Zeitzonen. Wie kann der Typus der Idealisierung und des Katastrophismus vermieden und wie Vielfalt an Lebenswelt eingefangen werden – gibt es doch schon in Zentraleuropa ausgehöhlte Bauerndörfer, Schlaforte im Umfeld von Großstädten, Gebirgsdörfer, Industrie- und Bergbauorte und Kleinstädte? Gewiss ist: Journalismus hat eine massive Schlagseite auf Katastrophen und Extreme hin, und dies wird vielfach als d i e Wirklichkeit gesehen.