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Die große digitale Gereiztheit

Was digitale Erregtheit bewirkt.

Ein Fall, der mir Stunden nach dem Lesen präsent blieb : Ein Bericht im Buch „Die große Gereiztheit“ von Publizistikprofessor Bernhard Pörksen. Der Text spielt nicht auf aktuelle Ereignisse an.

Hans H ö g l

Es ist der 12. Januar 2016 in Berlins Häuserschluchten. An diesem Tag lügt die 13-jährige Lisa die Mutter an, nachdem sie 13 Stunden nicht auffindbar war. Lisa ist am Vortrag auf dem Weg zur Schule verschwunden. Sie war die Nacht über nicht zu Hause, und die Familie hat sie als vermisst gemeldet. Nun berichtet das russischstämmige Mädchen, drei südländisch aussehende Männer hätten sie in ein Auto gezerrt, in eine Wohnung gebracht, geschlagen, vergewaltigt.

Später stellte sich heraus, dass es Schulprobleme gab und man ihre Eltern zu einem Gespräch einbestellt hatte, vor dessen Ausgang sich Lisa fürchtete. Später wird klar, dass es in der Nacht keine Vergewaltigung gegeben hat, sondern sie verbrachte die Nacht bei einem Freund, der ihr nichts angetan hat und dass Lisa sich selbst verletzt hatte, was von der Horrornacht herrühren sollte.

Aber die Lüge in der Familie diffundierte durch die digitale Welt. Schon am 14. 1. 2016 brodelt es in der russischsprachigen Gemeinschaft auf Facebook und Twitter. Und es kursiert das Gerücht, die 13-jährige sei von Migranten missbraucht worden, Politiker und Medien würden den Fall vertuschen. Im ersten Fernsehkanal Russlands behauptet am 16. Januar die Moderatorin, die Menschen in Deutschland seien angesichts der vielen Flüchtlinge nicht mehr sicher. „In den Städten herrsche längst Gewalt und Chaos.“ Ein russischer Korrespondent berichtet, Lisa sei „dreißig Stunden vergewaltigt“ und dann auf die Straße geschmissen worden. Und die Polizei habe nach dem Verhör des Mädchens nichts getan. Ausschnitte aus der TV-Sendung werden millionenfach geklickt. Die rechtsextreme NPD veranstaltete eine Kundgebung und fordert die Todesstrafe für Kinderschänder.

Dann ist in Medien die Rede von fünf Vergewaltigern. Russlanddeutsche demonstrieren in verschiedenen Städten. Vor dem Kanzleramt in Berlin tauchen 700 Demonstrierende auf und rufen: „Unsere Kinder sind in Gefahr“. Im digitalen Paralleluniversum haben sich Agitatoren des Themas angenommen. Man attackiert die Polizei, Politik und etablierte Medien.

Es stellt sich heraus, den Fall hat es nicht gegeben, doch die Geschichte ist auf unzähligen Seiten zur Gewissheit geworden. Der russische Außenminister S. Lawrow wirft den deutschen Behörden vor, aus Gründen politischer Korrektheit, dem Verbrechen nicht nachzugehen, was vom damaligen deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier scharf zurückgewiesen wird.

„Ein paar Tage später erklärt die Staatsanwaltschaft abschließend, dass das Mädchen das Verbrechen „erfunden habe“ (S. 12).

Pörksen schreibt dazu : Der Fall mache klar, dass Gerüchte sich zu Themen verdichten, zu denen sogar Außenminister zweier Länder sich äußern. Ohne die indiskreten Medien des digitalen Zeitalters hätte es die Ereignisse rund um das 13-jährige Mädchen Lisa „so nicht gegeben“ (S. 12). Das zitierte Buch (2018) handelt von neuen Plattformen und Wegen aus der kollektiven Erregung.