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1945: Landkrimi und Wirren in Alpenfestung

Hans Högl. Buchrezension.
Günther Marchner (2022): Das Innere des Landes, Salzburg. (A. Pustet).

Am Rande des steirischen Salzkammergutes lebt der Verfasser, in einer Landschaft mit Namen „Hinter“-Berg. Doch er werkt beruflich in der Stadt. Diese Doppel-Bödigkeit durchströmt das Buch, das man nicht so schnell aus der Hand legt, es hat einen Krimi-Spannungsbogen und gleichzeitig erfahren wir von Schicksalen in den letzen Monaten des Zweiten Weltkrieges, von Nazi-Fluchten und -schätzen und dem bitteren Fall einer Erbgeschichte kleiner Leute.

Der Verfasser ist ein Ver-Führer. Erahnen die Leser:innen, dass er Fachhistoriker und Entwicklungsplaner ist? Flüssig, hintergründig und nicht unkritisch liest sich das Buch. Die gekonnt kurzen und verständlichen Sätzen fließen dahin, vertiefen quasi nebenbei Unbekanntes aus der Alpenfestung des Dritten Reiches. In der Erb- und Auswanderungsgeschichte bergen sich Wirren um 1945. Es ist eine Tief-Bohrung in diese prächtige Gegend mit einer Dreifaltigkeit von Bergen, Seen und Landschaft, doch anders als in „Sound of Music“.

Das Buch „Das Innere des Landes“ von Günther Marchner wurde kürzlich im Eike-Forum im Wolferlstall in Bad Mitterndorf mit Musikbegleitung von Toni Burger öffentlich präsentiert,und es wurde viel Interesse bekundet. Denn dem Autor gelingt es, in den Romankrimi geschickt Zeitgeschichtliches und Aktuelles eines reflektierenden Einheimischen einzuflechten.

Vordergründig haben wir eine spannende Story dazu, wie es einer Frau ergeht, die ein Haus erbt, das ursprünglich ihrem Mann gehörte, der in den letzen Kriegstagen 1945 stirbt. Dann trifft sie gerüchteweise das Wort Erbschleicherin… Sie wanderte nach Amerika aus, ihr Haus vermietet sie ohne Vertrag, und nach ihrem Tod sieht ihr Sohn John nach dem Rechten – bei einem Notar. Es blieb Einiges ungeklärt. Die Kriminalgeschichte hat eine doppelte Würze – das familiäre Drama und die einstürzende und sich neu eröffnende Welt um 1945.

Ein paar Texte zur Illustration:

Frau Gruber sitzt im Salettl und klärt John über Land und Leute auf. Sie: Ich bin hier aufgewachsen, aber eigentlich bin ich nicht von hier. Ich bin ländlich und zugleich städtisch, eine urbane Hexe. So lebe ich ..in einer Zwischenwelt. „Diese Gegend ist … eine merkwürdige Mischung aus bürgerlicher Urbanität und spielerischer Landromantik…“

Hier gibt es viel Eigensinniges, viele Spinner und Eigenbrötler, einen verbreiteten Widerstand gegen die unhinterfragte Übernahme alles Neuen (S. 43).

Ein Mann am Stammtisch meint: „In der Gegend wimmelt es von Historikern, akademischen, selbsternannten und volkstümlichen, Landschaftsverschönerern, Kritikern und Beschönigern, Aufdeckern und Zudeckern. Natürlich gibt es auch penible, wissenschaftlich geschulte Menschen mit kritischem Blick, die sich um mehr Transparenz zu den Leichen in den Kellern bemühen, lacht er.“ (S. 73)

England zuerst, Irland kann hungern

Selten greifen Nachrichten und Tagesanalysen in Medien Historisches auf -und können es wohl auch nicht – so im Kontext des Brexit zur Relation England-Irland.

Hans Högl

Das Porträt im Kultursender ORF III über den Autor Christoph Ransmayr in der aufschlussreichen Sendung „Menschenbilder“ wurde mir Impuls, Ransmayrs Rede von bleibendem Wert 1997 bei den Salzburger Festspielen nachzulesen.

Ransmayr lebte in Irland und darüber sprach er in Salzburg, zu lesen im Büchlein: „Die dritte Luft oder Eine Bühne am Meer“. Es ist ein brillanter 27-seitiger Text, welcher schildert, wie auf einem Felsen hoch über dem Meer Geschichten erzählt werden, ja Schauplätze der Wirklichkeit:

Durch die Klippen passierte die in Belfast gebaute Titanic und nahm Kurs auf ihren Untergang. -Erzählt wird die Geschichte von John Ford, der aus dem irischen Elend nach New York entkam und dessen Sohn Henry sein Glück in Maschinen und Motoren fand.

Nach einigen Gläsern Whiskey wird dem Gast ganz Irland zur Drehbühne, die zu Torf zerfallenen Urwälder und die wieder erstandenen Eichenwälder, die unter den Äxten englischer Eroberer und Siedler zu Masten und Schiffsbalken wurden: Zweitausend hundertjährige Eichen, sagte mein Freund Eamon, mussten für ein einziges englisches Kriegsschiff gefällt werden.

Und an Sonnabenden im Winter kehrten in den Geschichten und Liedern die Verschwundenen, die Ausgewanderten und Toten wieder, die Toten der großen Hungersnot, die Getöteten all dieser Bloody Fridays und Bloody Sundays, die Kämpfe gegen England und des Bürgerkriegs, die Ertrunkenen jener Fregatten vor der Küste.

So singt ein Lied über die Hungerjahre, in denen Schiffe voll Getreide und Fleisch, Irlands Reichtum nach England verbrachten, während auf den Friedhöfen Massengräber für die Hungertoten ausgehoben wurden. Mehr als eine Million Tote in den Jahren der Hungersnot, sagte mein Freund Eamon, und Millionen von Ausgewanderten. England zuerst, Irland kann hungern…….

Osteuropa tickt anders. Sicht eines Politologen

Hans Högl:

Ivan Krastev ist Politologe am angesehenen „Institut für die Wissenschaften vom Menschen“ (IWM) in Wien, und er leitet das Zentrum für Liberale Studien in Sofia und schreibt für die „New York Times“. In Österreichs Medien ist er marginal präsent, doch „Datum“, eine Zeitschrift mit sehr geringer Auflage, brachte ein längeres Interview. Aber generell wird er in unseren Medien de facto inhaltlich nicht rezipiert. Auch für deutsche Feuilletons w ä r e n seine Analysen von großer Relevanz… sie wären es.

Hier ein kurzer Ausschnitt aus „Le Monde Diplomatique“ von Ivan Krastev:

„In Zentraleuropa erleben wir den Aufstieg der verunsicherten Mehrheit zum politischen Hauptakteur. Hier fühlen sich die Menschen weniger durch Migranten bedroht – die ja gar nicht in ihren Ländern leben wollen – als vielmehr durch das Vakuum, das die massenhafte Emigration der letzten zehn Jahre hinterlassen und ein Gefühl kollektiven Verlusts erzeugt hat.

Das verweist auf den Unterschied zwischen der nationalistischen Mobilisierung im Westen und im Osten. Im Westen wollen die Nationalisten keinen einzigen Fremden reinlassen. Im Osten wollen sie, dass niemand wegzieht und einige der Ausgewanderten zurückkommen.“

Wer diese Position fundierter zu erfassen sucht, dem sei empfohlen, den Essay zu lesen: Ivan Krastev: Europadämmerung (Suhrkamp TB). Meine Schlussfolgerung: Ein Gutteil der Kommentatoren und Entscheidungsträger im westlichen EU-Europa war bei der Migrationskrise nicht fähig, nicht willens oder schlechthin ignorant, die spezifische Situation unserer östlichen Nachbarländer mit Empathie zu verstehen und deren prekäre, sozial-wirtschaftliche Welt und ihre Probleme mit Minderheiten wahrzunehmen. Und da rühmen sich nicht wenige, Weltbürger zu sein.

Bulgarien – Land im medialen Windschatten

Hans Högl. Sachlicher Reisebericht und Reflexionen

Nur wenige Länder in Europa bleiben medial so unbeachtet wie Bulgarien. Dies trifft auf Deutschland zu und auch auf Österreich – obgleich es ein Tor zum Osten ist, erfahren wir selten etwas über Rumänien und fast nie wirklich Substantielles mit Recherche über Bulgarien. Meine Reise mag dienen, diese Medienlücke ein wenig zu schließen.

2007 tritt Bulgarien der EU bei. Autobahnen und Schnellstraßen sind von der EU kofinanziert. Sie sind besser, als die Bulgaren selbst meinen. Gehsteige sind potenziell fußbrecherisch, Stromleitungen verwickelt und manchmal bis auf Kopfhöhe herunterhängend – so in der anmutigen Kleinstadt Balchik am Schwarzen Meer. Sofia, die Hauptstadt, putzt sich perfekt westlich heraus.

Sichtbar ist der Wunsch von Bulgaren und Bulgarinnen nach mehr Konsumgütern, so hat der Besitz von deutschen Spitzenautos hohes Prestige. Es sind ihrer gar nicht so wenige. Immerhin – es erstaunt- die Hälfte der Haushalte hat ein Auto, meist gebrauchte, berichtet ein osteuropäischer Report. Es gibt gute Hotels und Restaurants. Orts- und Straßenamen sind in kyrillischer und oft in lateinischer Schrift. Junge Bulgaren sprechen Englisch, manche Deutsch. An der Schwarzmeerküste leben insgesamt und dauerhaft 60.000 -vor allem englische Rentner, auch deutsche. Und Skandinaviern schmeckt preisgünstiger Alkohol. 

Während in Westeuropa das Jahreseinkommen Ende der 1990er Jahre noch 4-mal höher war als in Bulgarien, war es 2010 nur zweieinhalb mal so hoch. Darum sind viele Konsumpreise um die Hälfte billiger. Namhafte westliche Firmen haben Filialen. Also: da wird Cash erwartet.
Bulgarien ist heute ein noch armes Land, aber die Situation bessert sich allmählich, schreibt ein Osteuropa-Report, und der Lebensstandard erscheint höher als erwartet. Die Leute sind westlich gekleidet, doch in Begegnungen sagen sie: „90 Prozent der Bevölkerung sind arm“. 

Wir erfahren im Gespräch, dass die Menschen ihre raffinierten politischen Eliten zu duldsam hinnehmen und sich darum über ihre Landsleute wundern und anerkennend auf den Mut der Rumänen sehen. Angesichts der Flüchtlingsdebatte ist zu bedenken: Bulgarien hat seit 1990 mehr als 1,6 Millionen seiner 8,7 Mio. Einwohner verloren – wegen Abwanderung. Also: Jeder fünfte Bulgare ist ausgewandert. Ein Viertel der bulgarischen Zuwanderer in Deutschland sind Akademiker, aber im Land selbst fehlen Fachkräfte, viele Häuser stehen leer, Junge sind weggezogen und ältere Menschen fristen ihr Dasein mit beschämend kleinen Renten. Zum Glück hilft die mittlere Generation. 

Die Abwanderung lässt die Bulgaren um die Existenz ihres Landes fürchten, schreibt der bulgarische Autor Ivan Krastev im Buch „Europadämmerung“.- Selbst die bleierne Zeit des Kommunismus konnte Traditionen und den orthodoxen Glauben nicht zu Fall bringen. Doch darüber in einer Folge.

Es lohnt, dieses kulturell reiche Land zu besuchen: die Welt der Klöster und Ikonen, bedeutend Museen mit Goldschätzen von und vor den Thrakern. Berühmte Bulgaren sind die Schriftsteller Elias Canetti und Trojanow und der Künstler Christo, der Gebäude wie den Berliner Reichstag 1995 ver- und enthüllte.